Ein einziges lyrisches Missverständnis

Michael Basse
Ein einziges lyrisches Missverständnis
Borchardt, Adorno und die neue deutsche Befindlichkeit

In:
Heinz Ludwig Arnold und
Gerhard Schuster (Hrsg.):
Rudolf Borchardt
Text und Kritik
Sonderband
München 2007

Textauszug: 

"(...) Die Stoßrichtung ist alles andere als avantgardistisch. Und das gilt sowohl für die Sprachauffassung wie für den ideologisch-politischen Überbau. Der Vergleich mit Pound bietet sich hier geradezu an, zumal es in der Vita beider überraschende Parallelen gibt. Für beide ist die Poesie sprachlich auf den Hund gekommen. Während Borchardt die naturalistischen und neoromantischen Strömungen ebenso auf den Geist gehen wie der sich andeutende Expressionismus und später die neue Sachlichkeit, gegen die er einen hohen Ton restituieren will, der sich an klassischen Epochen vom Mittelalter bis zur Goethezeit messen lassen kann, wettert Pound gegen die gekünstelt anämische Stimmungs- und Gefühlsdichtung Londoner Salons, deren dekorativer Schwulst von sprachlicher Impotenz zeuge. Beiden geht es um ein fundamental anderes Verhältnis zur Sprache, eigentlich um ihre Wiederbelebung. Ernsthafte Auseinandersetzung mit Traditionen, echte Bildung und philologische Kenntnisse sind dabei selbstverständliche Voraussetzung, wenn nicht blind ins Blaue hinein gedichtet werden soll. Für Borchardt hatte sich Deutsch als Literatursprache geschichtlich verabschiedet; für den Wahleuropäer Pound, der sich je nach Lage englisch, französisch, italienisch und mitunter auch deutsch ausdrückte, hatte sich das Italienische als Literatursprache seit Dante und Cavalcanti - mit Ausnahme Leopardis - kaum weiterentwickelt. Beide übersetzten aus dem Italienischen, wurden aus Bewunderung für Mussolini auf der Oberfläche Faschisten, machten dem Duce ihre Aufwartung. Beide hofften auf eine kulturelle Erneuerung aus dem Geiste des Archipelagos. Beider Domizile - Lucca und Rapallo - lagen Luftlinie gerade mal 100 Kilometer entfernt.

Doch damit sind die Parallelen nahezu erschöpft. Während Borchardt in Lucca mit Vorliebe königliche Hoheiten empfing, avancierte Rapallo unter Pound zum internationalen Treff für Musiker und Komponisten (von Igor Strawinsky bis George Antheil), und Dichter (von W. B. Yeats bis T. S. Eliot). Während Borchardt, der zu Beginn des Ersten Weltkriegs noch vom "Untergang des alten autonomen Europas und seiner kulturellen Übernahme durch das deutsche Imperium" träumte, auch danach noch an der deutschen Mission festhielt und einen aggressiven Chamberlain-Hitler-Pakt gegen Franco favorisierte, schwor Pound - vom ersten Weltkrieg gründlich desillusioniert - allen imperialistischen Visionen ab, mutierte zum Kriegsgegner und Internationalisten und schrieb seinen "Mauberly"-Zyklus. Hitler hielt er von Anfang an für einen "epileptischen Hinterwäldler", während ihm der Duce - wie vielen italophilen Ausländern - der einzige Garant für ein kulturell fortschrittliches Europa zu sein schien. Mit anderen Worten: während Pound selbst noch als angeklagter "Hochverräter" seinen republikanischen Überzeugungen treu blieb und den Faschismus in seiner italienischen Spielart nur insoweit goutiert hatte, als er die res publica "fortschrittlicher" (und das hieß für ihn "gemeinnütziger und friedlicher") organisierte als der wild gewordene Kapitalismus, der zu Weltkrieg und Börsenkrach geführt hatte, huldigte Borchardt unverdrossen einem untergegangenen deutschen Wilhelminismus samt seinen imperialen Ansprüchen. Borchardts überstrapazierter Leitbegriff hieß nicht "Republik" sondern "deutsche Nation", und zwar eine, die im Zweifelsfall über alles ging (also auch über Leichen)."